Der „Große Krieg“ und das „Wunder an der Weichsel“

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1914 befand sich Europa in der ruhigen Üppigkeit der Belle Époque und vertraute noch auf den strahlenden Fortschritt der Menschheit. Wer hätte gedacht, daß die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo eine Ära des Todes und der Zerstörung auf globaler Ebene einläuten würde? Doch nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 stürzte Europa innerhalb eines Monats in eine gewaltige Katastrophe. Eine unaufhaltsame Dynamik riß die Protagonisten des Konflikts in den Krieg. Am Ende dieses Weltenbrandes waren neun Millionen Männer gefallen.

Der heilige Pius X., der die Kirche seit 1903 regierte, hatte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs lange vor dem Ausbruch des Sturms in Europa wiederholt vorausgesagt. „Die Dinge stehen schlecht“, sagte er oft, „der Große Krieg kommt, der ‚Guerrone‘!“ Er litt unter dem Gemetzel, vor allem aber wegen der geistigen und moralischen Umwälzung, die der Krieg mit sich bringen würde. Der Papst hatte einen großen Plan für die religiöse Rückeroberung der Gesellschaft, den er mit seinem Katechismus und der Verbreitung der häufigen Kommunion, sogar für Kinder, begonnen hatte. Dieser Plan wurde zum Teil durch den Ersten Weltkrieg durchkreuzt, in dem die 1898 und 1899 geborenen „Jungen“, die unter seinem Pontifikat aufgewachsen waren und ganz jung zu den Waffen gerufen wurden, ihr Blut auf den Schlachtfeldern vergossen.

Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, der von einem erbitterten ideologischen Haß zwischen den Kriegsparteien getragen wurde. Die katholische Welt selbst wurde durch interne Polemiken zerrüttet. In Italien waren die Katholiken zwischen den Neutralisten und den Interventionisten gespalten, und letztere wiederum zwischen den Anhängern des „Dreibundes“, zu dem Italien mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich gehörte, und den Anhängern der „Triple Entente“, zu der Frankreich, Rußland und England gehörten.

Deutsche, österreichische, italienische, französische und britische Katholiken standen sich auf den Schlachtfeldern gegenüber. Es war eine große Tragödie, aber die Katholiken taten ihre Pflicht als gute Soldaten und versuchten, die Haßgefühle, die ihnen die Propaganda einflößte, durch das Mitleid zu überwinden, das sie für einen Feind empfanden, dem sie den Tod gaben oder von dem sie ihn empfingen.

Pius X. starb voller Trauer am 20. August 1914, während in Europa die Kanonen donnern. Sein Nachfolger, Kardinal Giacomo Della Chiesa, wurde am 3. September gewählt und erhielt den Namen Benedikt XV. Wie Pius X. sah auch Benedikt XV. die tieferen Gründe für den Krieg in der moralischen Unordnung, aber da er der „politischen“ Schule Leos XIII. angehörte, glaubte er, daß die Waffen der Diplomatie den Konflikt beenden könnten. Sein wichtigster diplomatischer Akt war die am 1. August 1917 an die Führer der kriegführenden Mächte gesandte Exhortation Dès le début, in der er sie zur Aufnahme von Friedensverhandlungen aufforderte, um dem „sinnlosen Gemetzel“ ein Ende zu setzen. Zu diesem Zweck schlug der Papst die Vermittlungstätigkeit des Heiligen Stuhls vor, um die materielle Kraft der Waffen durch die moralische Kraft des Rechts zu ersetzen. „Daher eine gerechte Übereinkunft aller in der gleichzeitigen und gegenseitigen Verringerung der Rüstungen nach festzulegenden Normen und Garantien, in dem Maß, das notwendig und ausreichend ist, um die öffentliche Ordnung in den einzelnen Staaten aufrechtzuerhalten; und anstelle der Waffen die Institution der Schiedsgerichtsbarkeit mit ihrer hohen Befriedungsfunktion, nach den zu vereinbarenden Normen und der zu vereinbarenden Sanktion gegen den Staat, der sich weigert, internationale Fragen dem Schiedsrichter zu unterbreiten oder seine Entscheidung zu akzeptieren.

Der Vorschlag stieß auf taube Ohren. Im selben Jahr 1917 erschien die Gottesmutter in Fatima in Portugal, in einem vom Krieg verschonten Teil Europas, zwischen Mai und Oktober drei Hirtenkindern und offenbarte ihnen, daß die Ursache des Krieges die Sünden der Menschheit und daß die einzigen Mittel, um Frieden in der Welt zu erreichen, Gebet und Buße seien. Die Gottesmutter bat den Papst auch, Rußland dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen und die Verbreitung der Andacht der Herz-Mariä-Sühnesamstage an den ersten Samstagen des Monats zu fördern. Der Weltkrieg endete, aber er öffnete den Weg für die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und einen zweiten Krieg, der noch schrecklicher war als der vorherige. Rußland verbreitete, wie die Gottesmutter in Fatima angekündigt hatte, seine Irrtümer in der ganzen Welt. Schwester Lucia, die einzige Überlebende der drei Hirtenkinder, ging in das Kloster und erhielt weitere himmlische Botschaften, in denen die heilige Jungfrau ihre Bitten erneuerte, um weitere Geißeln abzuwenden. Die Weiheakte und das Anvertrauen Rußlands durch Pius XII. im Jahr 1942 und Johannes Paul II. im Jahr 1984 entsprachen nur teilweise den Bitten der Gottesmutter, und so waren auch die Ergebnisse nur partiell: die Verkürzung des Zweiten Weltkriegs und der Fall der Berliner Mauer, was jedoch nicht das Ende des Kommunismus bedeutete. Die Weihe Rußlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens, die Papst Franziskus am 25. März 2022 vornahm, scheint gültig gewesen zu sein, aber sie wurde nicht von einem Aufruf zur Buße und zur Verbreitung der Sühnesamstage begleitet. Einige Wirkungen blieben jedoch nicht aus.

In seiner Videoansprache am 13. Mai 2023 auf der Konferenz der Lepanto-Stiftung sagte Seine Seligkeit Swjatoslaw Schewtschuk, Großerzbischof der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, daß sein Volk seit Beginn der russischen Invasion die Schirmherrschaft der heiligen Jungfrau Maria und ihres Unbefleckten Herzens erfahren habe. „Als russische Truppen am 25. März 2022 die Stadt Kiew belagerten, praktisch nur wenige Dutzend Kilometer von unserer Kathedrale entfernt, weihte der Heilige Vater Franziskus die Ukraine und Rußland dem Unbefleckten Herzen Mariens. Wenige Tage später vertrieb die ukrainische Armee die russische Armee aus unserer Hauptstadt. Ich möchte dies als das ‚Wunder am Dnjepr’ bezeichnen und es mit einem ähnlichen historischen Ereignis vom 16. August 1920 vergleichen, nämlich der Schlacht bei Warschau. Genau diese Schlacht spielte eine entscheidende Rolle im polnisch-bolschewistischen Krieg. Der außergewöhnliche Zeuge dessen, was von einem der Protagonisten, General Haller, als ‚Wunder an der Weichsel‘ bezeichnet wurde, war der Apostolische Nuntius in Polen, Achile Ratti, der spätere Pius XI: einer der wenigen Diplomaten, die die polnische Hauptstadt angesichts der vorrückenden Roten Armee nicht im Stich ließen.“

Am 10. März 1920 fand in Smolensk ein Treffen der Führer der Roten Armee statt, bei dem der Angriff auf Polen und die Invasion Westeuropas beschlossen wurde. Nuntius Achille Ratti, der Benedikt XV. vertrat, verließ Warschau trotz der ernsten Bedrohung nicht: Er nahm an den Gebeten teil, die während der Schlacht organisiert wurden, und begab sich an die Frontlinie. Als er 1922 unter dem Namen Pius XI. Papst wurde, ließ er die päpstliche Kapelle in Castel Gandolfo mit einem Gemälde des Wunders an der Weichsel schmücken, auf dem Pater Ignacy Skorupka, Kaplan eines Infanterieregiments, in der Soutane und mit dem Kreuz als einziger Waffe in der Hand dargestellt ist, wie er die jungen Freiwilligen zum Gegenangriff führt und dabei tapfer den Tod findet. Das Wunder an der Weichsel hat nicht nur Polen, sondern den gesamten Westen gerettet und Estland, Lettland und Litauen die Unabhängigkeit gebracht. Heute ist der Westen immer noch bedroht, ein neuer „Krieg“ steht vor der Tür, und das Leid, das Pius X. ertragen mußte, muß auch das unsere sein. Die Verantwortung für die herannahende Katastrophe liegt in erster Linie bei den Sünden und der Untreue des christlichen Abendlandes. Aber wenn der Krieg immer eine Strafe ist, bleibt es die Pflicht der Katholiken, ihre Nationen und ihre Zivilisation mutig zu verteidigen, wie es an der Weichsel geschah, und die Gottesmutter zu bitten, die Zeiten des Leidens zu verkürzen und die des Triumphs ihres Unbefleckten Herzens zu beschleunigen.