Die Verbrechen der Tscheka

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Es ist ein erschreckendes Dokument, aber es hilft, viele Ereignisse der Gegenwart zu verstehen, das am 16. Dezember letzten Jahres von der Zeitschrift La Nuova Europa [Das Neue Europa] unter dem Titel „UdSSR, ein Trauma, das noch nicht überwunden ist“ veröffentlicht wurde. Der Autor, der Journalist Wladimir Jakowlew, ist der Enkel von Wladimir Jakowlew (1892–1935), Kommissar der Tscheka, der blutigen Geheimpolizei, die 1917 von Lenin und Felix Dserschinski (1877–1926) zur Bekämpfung der Feinde des neuen kommunistischen Regimes geschaffen wurde. Die Tscheka1 war die erste in einer Reihe von Organisationen, der GPU, dem NKWD, dem KGB, bis hin zum heutigen FSB, die ihre Methoden verfeinert, aber im Grunde nicht verändert haben.

Die Tscheka bespitzelte die gesamte Bevölkerung von Sowjetrußland, von den Volkskommissaren bis hin zu ihren eigenen Agenten, deren Zahl mit der Zeit ins Unendliche wuchs. Die Arbeit der „Tschekisten“ umfaßte neben der Spionage auch Verhaftungen, physische und moralische Folter, Einzel- und Massenmord. Die Hinrichtungen fanden in der Regel in Kellern statt, vor denen Lastwagen anhielten, deren Motorengeräusche das Krachen der Schüsse und die Schreie der Opfer übertönten. In den dunkelsten Ecken dieser Keller, die „Totenschiffe“ genannt wurden, warteten Politiker, Offiziere, Priester, Aristokraten und Bürger auf ihr Schicksal. Für sie alle kannte die sowjetische Justiz in der Regel nur eine Strafe: den Tod. „Wir“, sagten die Tschekisten, „führen keinen Kampf gegen Einzelpersonen, wir vernichten eine Klasse“.

„Mein Großvater Wladimir Jakowlew“, erinnert sich der Enkel heute, „war ein Mörder, ein blutrünstiger Henker, ein Tschekist. Zu seinen zahlreichen Opfern gehörten auch seine eigenen Eltern. Mein Großvater erschoß seinen Vater als Spekulanten. Seine Mutter, meine Urgroßmutter, erhängte sich, nachdem sie das gehört hatte.“

Wladimirs Großmutter hatte die meiste Zeit ihres Lebens als Berufs-Provokateurin gearbeitet. Sie stammte aus einer Adelsfamilie und nutzte ihre Herkunft, um freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen und Bekannte dazu zu bewegen, sich ihr anzuvertrauen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Gespräche schrieb sie dann ihre Dienstberichte.

„Unter einer dünnen Schicht von Unwissenheit“, so der Journalist weiter, „sind meine glücklichen Kindheitserinnerungen vom Geist des Raubes, des Mordes, der Gewalt und des Verrats durchdrungen. Sie sind mit Blut getränkt. Geht es nur mir so? Wir alle, die wir in Rußland aufgewachsen sind, sind Enkelkinder von Opfern und Tätern. Wir alle, ohne Ausnahme. In Ihrer Familie gab es keine Opfer? Dann gab es Henker. Gab es keine Henker? Dann gab es Opfer. Gab es keine Opfer und keine Henker? Dann gibt es noch Geheimnisse. Daran besteht kein Zweifel! Ich glaube, daß wir den Einfluß der Tragödien der russischen Vergangenheit auf die Psyche der heutigen Generationen stark unterschätzen. Auf unsere Psyche“.

Um das Ausmaß vergangener Tragödien zu beurteilen, zählt man gewöhnlich die Toten. Doch um die Auswirkungen dieser Tragödien auf die Psyche künftiger Generationen zu beurteilen, so Jakowlew, darf man nicht die Toten zählen, sondern die Überlebenden, d. h.

„die Verwitweten, die Waisen, diejenigen, die geliebte Menschen verloren haben, die Deportierten, die enteigneten Bauern, die Exilanten, diejenigen, die getötet haben, um sich selbst zu retten, für die Idee oder für den Sieg, die Verratenen und die Verräter, die Ruinierten, jene, die ihr Gewissen verkauft haben, jene, die zu Henkern wurden, die Gefolterten und die Folterknechte, die Vergewaltigten, die Verstümmelten, die Beraubten, jene, die zu Verbrechen gezwungen wurden, die im Alkohol ihren hoffnungslosen Schmerz, ihre Schuldgefühle oder ihren verlorenen Glauben ertränken, die Gedemütigten, die, die tödlichen Hunger, Gefangenschaft, Besatzung, Arbeitslager erlebt haben“.

Die Zahl der Toten liegt im zweistelligen Millionenbereich, die der Überlebenden umfaßt Hunderte von Millionen, die ihre Angst, ihren Schmerz und das ständige Gefühl der Bedrohung durch die Außenwelt an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben.

„Rein statistisch gesehen“, so Jakowlew, „gibt es heute in Rußland keine einzige Familie, die nicht auf die eine oder andere Weise die schweren Folgen eines Jahrhunderts der Grausamkeiten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ertragen hat. Haben Sie sich schon einmal gefragt, inwieweit die Lebenserfahrungen von drei aufeinanderfolgenden Generationen Ihrer direkten Vorfahren Ihre aktuelle und persönliche Wahrnehmung der Welt beeinflußt haben? Wenn Sie das noch nie getan haben, sollten Sie darüber nachdenken. In der Schule wurde uns von den Greueltaten der Nazis erzählt. In der Schule erzählte man uns von den Greueltaten der chinesischen Roten Garde oder der Roten Khmer in Kambodscha. Sie haben nur vergessen, uns zu sagen, daß der schrecklichste Völkermord in der Geschichte der Menschheit, der in seinem Ausmaß und seiner Dauer beispiellos ist, nicht in Deutschland, nicht in China, nicht in Kambodscha, sondern in unserem Land stattgefunden hat. Und es waren nicht die weit entfernten Chinesen oder Koreaner, die das Grauen des schlimmsten Völkermords in der Geschichte der Menschheit überlebt haben, sondern drei Generationen Ihrer eigenen Familie.“

Die schlimmste Folge eines ererbten Traumas ist die Unfähigkeit zu erkennen, in welchem Ausmaß dieses Trauma unsere Wahrnehmung der aktuellen Realität verzerrt. Deshalb, so Jakowlew, „ist es wichtig zu verstehen, inwieweit unsere gegenwärtigen Ängste, unser Gefühl der Bedrohung von außen, eigentlich nur Gespenster aus der Vergangenheit sind, deren Existenz wir so sehr fürchten anzuerkennen“.

Wladimir Putin kam mit Hilfe einer kleinen Gruppe ehemaliger KGB-Agenten an die Macht, die ihn auch heute noch umgeben. Für ihn ist der KGB-FSB die Spezialeinheit des sowjetischen Vaterlandes. Jetzt gibt es in Rußland eine wachsende Bewegung, die die Statue von Dserschinski, dem Gründer des direkten Vorgängers des KGB, die 1991 unter dem Beifall der Bevölkerung entfernt wurde, wieder an ihren Platz auf dem Lubjanka-Platz stellen möchte.2 Und Jakowlew schließt mit bitterem Sarkasmus:

„1919, inmitten von Verwüstung und Hungersnot, war mein mörderischer Großvater im Begriff, an der Schwindsucht zu sterben. Vor dem Tod bewahrte ihn Felix Dserschinski, der ihm eine Kiste französischer Sardinen in Öl brachte, die wahrscheinlich aus einem ‚besonderen‘ Lager stammten. Mein Großvater ernährte sich einen Monat lang von Sardinen, und nur dank dieser Tatsache blieb er am Leben. Heißt das, daß ich meinen Weg Dserschinski verdanke? Wenn ja, wie kann ich damit leben?“

Dserschinski-Denkmal vor seinem Geburtshaus