Das Jahr 2023 überliefert der Zukunft ein noch nie dagewesenes Bild: das Begräbnis eines Papstes, dem ein anderer Papst vorsteht. Ein Bild, das das Wesen des Papsttums berührt, das nach dem Willen Jesu Christi eins und unteilbar sein soll.
In einem Interview mit Bruno Vespa erklärte Kardinal Joseph Ratzinger am Karfreitag 2005, als er noch Präfekt der Glaubenskongregation war, daß „das Pontifikat eine einzigartige Verantwortung ist, die der Herr gegeben hat und die nur der Herr zurücknehmen kann“. Acht Jahre später jedoch, am 11. Februar 2013, kam die Ankündigung seiner Abdankung wie „ein Blitz aus heiterem Himmel“, wie der damalige Kardinaldekan Angelo Sodano sagte. Manche sind davon überzeugt, daß die Ursache für den Rücktritt Benedikts XVI. vom Papstamt unter verschiedenartigem Druck geschah, der auf ihn ausgeübt worden sein soll. Doch Benedikt bekräftigte in seinen jüngsten Gesprächen mit Peter Seewald: „Das ist alles Unsinn, niemand hat versucht, mich zu erpressen. Das hätte ich nicht zugelassen“. Die Entscheidung, so wiederholte er stets, wurde in voller und bewußter Freiheit getroffen.
Liegt der Grund für die Abdankung in der psychophysischen Erschöpfung des Papstes? Benedikts Post-Pontifikat dauerte aber zehn Jahre, länger als sein Pontifikat, und er war mit 95 Jahren der langlebigste Papst der Kirche. Darüber hinaus bewahrte Benedikt bis zu seinem Tod einen beeindruckenden klaren Verstand, wie aus einem seiner letzten Dokumente hervorgeht: dem Brief vom 6. Februar 2022, in dem er schreibt, daß er sich darauf vorbereite, „die dunkle Pforte des Todes mit Zuversicht zu durchschreiten“, und in dem er dazu aufruft, „im Glauben standhaft zu bleiben“, ohne sich durch falsche Wissenschaft und falsche Theologie verwirren zu lassen.
Der Verzicht auf das Papsttum bleibt also unerklärlich, aber folgenreich. In den zehn Jahren nach der Wahl von Franziskus benutzte Benedikt den Titel „emeritierter Papst“, trug weiterhin Weiß und erteilte den apostolischen Segen, was auf die Idee einer päpstlichen Diarchie hindeutete. Dann starb der zurückgetretene Papst, und sein Nachfolger feierte sein Begräbnis, aber auch er ist krank, im Rollstuhl, und sein Pontifikat neigt sich dem Ende zu. Ein dämmriges Licht scheint auf die Kirche zu fallen. Kann man eine objektive Schwächung der Institution des Papsttums in der Wahrnehmung der einfachen Gläubigen leugnen?
Heute wird alles, was Benedikt XVI. in den acht Jahren seiner Amtszeit getan hat, von der Erinnerung an das überlagert, was er in den letzten zehn Jahren nicht getan hat, die beherrscht von dem Bild zweier Päpste von den Medien in fast symbiotischer Harmonie dargestellt wurden. Und doch war da zunächst der Papst der Hermeneutik der Kontinuität und der nicht verhandelbaren Prinzipien, der Restaurator der Liturgie, der Kritiker der Diktatur des Relativismus und der Verteidiger des Abendlandes; dann kam der Papst, der Traditionalisten nicht leiden kann und progressive Theologen schätzt; der Papst der Offenheit gegenüber Homosexuellen und wiederverheirateten Geschiedenen; der Papst der Umwelt, der Einwanderung und der Dritten Welt. Wenn diese beiden unterschiedlichen Weisen, dem modernen Menschen das Evangelium zu vermitteln, unter den Gläubigen lehrmäßige und sogar kanonische Kontroversen hervorgerufen haben, dann auch wegen einer Kohabitation im Vatikan, die eine Wahl zwischen zwei Fahnen vorzuschlagen schien und dabei vergaß, daß es in der Vergangenheit in der Geschichte der Kirche auch starke Divergenzen zwischen den Pontifikaten gegeben hat, wie bei denen von Leo XIII. und Pius X. oder denen von Pius XII. und Johannes XXIII. Päpste sind Menschen, und ihre Unterschiede sollten nicht so sehr betont werden, daß man sich vorstellt, es gäbe heute zwei gegensätzliche Kirchen, die von Benedikt und jene von Franziskus, denn so wie es nur einen Stellvertreter Christi gibt, gibt es auch nur eine Kirche, die katholische, apostolische und römische.
Das Geheimnis bleibt jedoch bestehen und muß durch Nachdenken und Gebet und nicht durch Medienrummel ergründet werden. Der wahre christliche Philosoph besitzt das, was Pater Reginald Garrigou-Lagrange (1877–1964) den „Sinn für das Geheimnis“ nannte, d. h. das Bewußtsein, nicht alles mit der Vernunft streng erklären zu können. Der katholische Glaube ist vernünftig, aber die Vernunft hört an der Schwelle des Unbegreiflichen auf. Deshalb lehnt die katholische Tradition zwar den Fideismus ab, den Willen zum Glauben gegen die Vernunft, verurteilt aber auch jenen Semi-Rationalismus, der die Vernunft mit der Aufgabe betraut, den gesamten Glauben zu erklären.
Ein anderer großer Theologe, Pater Matthias Scheeben (1835–1888), stellt in einem berühmten Werk fest, das den Geheimnissen des Christentums gewidmet ist, daß, „je größer, erhabener und göttlicher das Christentum ist, desto notwendigererweise sein Inhalt unergründlich, unbegreiflich und geheimnisvoll sein muß“. Aber, wenn wir nicht in der Lage sind, so erklärt er weiter, das Geheimnis zu durchdringen, liegt die Ursache nicht im Geheimnis selbst, das eine in sich leuchtende Wahrheit ist, sondern in der Schwäche unseres Geistes. Geheimnisse sind Wahrheiten, die sich unserem Blick entziehen, nicht weil sie an sich undurchsichtig sind, sondern weil sie so erhaben und schön sind, daß selbst das schärfste menschliche Auge sich ihnen nicht nähern kann, ohne von ihnen geblendet zu werden. Benedikt XVI. erinnerte in einer Ansprache am 21. November 2012 daran, daß „das Mysterium nicht irrational ist, sondern eine Überfülle an Sinn, an Bedeutung, an Wahrheit. Wenn die Vernunft bei der Betrachtung des Geheimnisses Dunkelheit sieht, dann nicht, weil es kein Licht im Geheimnis gibt, sondern weil es zuviel davon gibt.“
Unter den Geheimnissen des Christentums, die Gegenstand der Theologie sind, gibt es das der Kirche, ein Geheimnis, so Scheeben weiter, das in seinem Wesen, seiner Struktur, seiner Tugend und seinem Wirken groß und wunderbar ist. Und vielleicht hat noch nie ein Mysterium den mystischen Leib Christi umhüllt, eine Wirklichkeit, die zugleich menschlich und göttlich ist und daher der Zerbrechlichkeit des menschlichen Verstandes überlegen ist. Benedikt XVI. oder einfach Josef Ratzinger starb am 31. Dezember, dem letzten Tag des Jahres, an dem in der Liturgie des heiligen Silvester (314–336), des ersten Papstes der konstantinischen Ära, gedacht wird. In dieser Stunde der Sorge und Ungewißheit wenden wir uns mit den Worten von Dom Prosper Guéranger (1805–1875) an den heiligen Silvester:
„Pontifex des Friedens, blicke aus der ruhigen Wohnstatt, in der du ruhst, auf die Kirche Gottes, die von den furchtbarsten Stürmen aufgewühlt wird, und flehe Jesus, den Friedensfürsten, an, diesen grausamen Aufregungen ein Ende zu bereiten. Richte deinen Blick auf das Rom, das du so sehr liebst und das dein Andenken in Ehren hält; beschütze und leite seinen Papst. Möge es triumphieren über die List der Politiker, über die Gewalt der Tyrannen, über die Fallen der Ketzer, über die Hinterhältigkeit der Schismatiker, über die Gleichgültigkeit der Weltlichen, über die Laxheit der Christen. Möge es geehrt, geliebt und befolgt werden. Laß die Majestät des Priestertums wiederhergestellt werden, die Macht des Geistes bestätigt werden, Stärke und Liebe sich die Hände reichen, das Reich Gottes endlich auf Erden beginnen, und es soll nur noch eine Herde und einen Hirten geben; wache, o Silvester, über das heilige Glaubensgut, das du so sehr gehütet hast; laß sein Licht über alle falschen und verwegenen Systeme triumphieren, die sich von allen Seiten erheben als die Zeichen des Menschen in seinem Stolz. Möge sich jeder erschaffene Verstand dem Joch der Geheimnisse unterwerfen, ohne die die menschliche Weisheit nur Finsternis ist; und möge Jesus, der Sohn Gottes, der Sohn Marias, schließlich durch Seine Kirche über Verstand und Herzen herrschen.“