Italiens Regierungsbildung mit internationaler linker Empörung – und Stolpersteinen

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Die Wahl von Ignazio La Russa, Präsident des Senats, und Lorenzo Fontana, Präsident der Abgeordnetenkammer, an die Spitze des italienischen Parlaments hat bei den Parteien der internationalen Linken einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Senator La Russa wurde am 13. Oktober vom Guardian angegriffen, weil seine Eltern ihm bei der Taufe den Namen Ignazio Maria Benito aufgedrückt hatten, mit einer offensichtlichen Anspielung auf den Duce des Faschismus, und weil er vor vier Jahren in einem Video eine kleine Statue von Mussolini unter den historischen Erinnerungsstücken in seinem Haus gezeigt hatte. Der Movimento Sociale Italiano (Italienische Sozialbewegung), die Partei, aus der La Russa hervorging, wurde 1995 aufgelöst, löste seine Verbindungen zum Faschismus und wurde als Alleanza Nazionale neugegründet. Aus Alleanza Nazionale ging 2012 die Partei Fratelli d’Italia hervor, zu deren Gründern La Russa zusammen mit Giorgia Meloni gehörte. Giorgia Meloni wiederholte am 17. Oktober ihre Verurteilung des „Nazi-Faschismus“, und Ignazio La Russa sagte in seiner Antrittsrede, er erkenne sich in den Worten der Senatorin Liliana Segre wieder, einer Überlebenden des Konzentrationslagers, von der er als Alterspräsidentin das Amt übergeben bekam. Doch das reicht nicht aus, denn mit dem Faschismus wird keine Kontinuität, nicht einmal eine familiäre Kontinuität, zugelassen, obwohl diese Bewegung endgültig vom politischen Horizont verschwunden ist.

In den Tagen, in denen das neue italienische Parlament eröffnet wurde, fand in Peking der 20. Parteikongreß der Kommunistischen Partei Chinas statt. Präsident Xi Jinping bekräftigte in seiner Eröffnungsrede das Bekenntnis der Kommunistischen Partei zum Marxismus. „Unsere Erfahrung hat uns gelehrt, daß wir den Erfolg unserer Partei und des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen im wesentlichen der Tatsache verdanken, daß der Marxismus funktioniert“, sagte Xi Jinping und fügte hinzu, daß der Marxismus die „grundlegende ideologische Richtschnur“ sei, auf der China und die Kommunistische Partei Chinas gründen. Die Medien berichteten über diese Worte ohne besonderen Kommentar. Heute gibt es keinen Staat auf der Welt mehr, der im Namen des Faschismus Verbrechen begeht, aber der Führer der zweitgrößten Supermacht der Welt, der im Lande heftige Repressionen ausübt, kann sich offiziell auf die verbrecherische Ideologie des Kommunismus berufen, ohne einen Skandal oder Empörung auszulösen.

Die Angriffe auf den „homophoben Katholiken“ Lorenzo Fontana waren noch heftiger als die auf den „Postfaschisten“ Ignazio La Russa. Fontana, stellvertretender Vorsitzender der Lega [vormals Lega Nord] und ehemaliger Familienminister in der Regierung aus Lega und Fünfsternebewegung [2018/2019], hat sich der Kritik an der Gender- und LGBT-Ideologie schuldig gemacht und ist gegen Abtreibung und unkontrollierte Einwanderung. Dies sei auf seine Weltsicht als obskurantistischer Katholik zurückzuführen, der eine traditionalistische Pfarrei in Rom besucht und „fünfzig Ave Maria am Tag betet“, wie La Repubblica am 15. Oktober schreibt. „Schlimmer als so geht es nicht, nicht einmal in den kühnsten Vorstellungen. Italien hat diese Schande nicht verdient“, erklärte der Vorsitzende der Demokratischen Partei1, Enrico Letta, am 14. Oktober, unmittelbar nach der Wahl Fontanas, während der Präsident der Region Kampanien, Vincenzo De Luca, ihn am 16. Oktober als „Troglodyten“ [Höhlenkriecher] bezeichnete und seine Positionen offensichtlich als einer zivilisierten Gesellschaft fremd beurteilte. „Troglodyten“ wären folglich nach De Luca auch die Richter des amerikanischen Verfassungsgerichts, die im Juni dieses Jahres die Verfassungswidrigkeit des Abtreibungsurteils Roe v. Wade feststellten.

In den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Historischen Kompromiß2 identifizierte der Philosoph Augusto Del Noce (1910–1989) in verschiedenen Werken, darunter „Il suicidio della Rivoluzione“ („Der Selbstmord der Revolution“, Rusconi, Mailand 1978), den „Progressismus“ als eine Geschichtssicht, derzufolge der Faschismus und nicht der Kommunismus das radikale Übel des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Aus progressiver Sicht bedeutete das Ende des Faschismus als notwendige Konsequenz das endgültige Verschwinden der Prinzipien und Institutionen, auf denen die christliche Zivilisation jahrhundertelang beruhte und die als unvereinbar mit dem „Fortschritt“ der Menschheit angesehen wurden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer „antifaschistischen Allianz“ der Kräfte des Fortschritts gegen das „radikal Böse“, das nicht so sehr im Faschismus als vielmehr in jener Geschichtsauffassung gesehen wird, die auf traditionellen Werten wie Gott, Familie, Privateigentum und der Idee der „Natur“ beruht und die durch die fluide Ideologie des Progressivismus aufgelöst werden soll.

In Wirklichkeit gibt es, Del Noce zufolge, vielmehr eine philosophische Kontinuität zwischen dem antifaschistischen Progressivismus und dem Faschismus, denn der Progressivismus ist das Kind derselben säkularistischen und im weiteren Sinne „modernistischen“ Kultur, die den Faschismus hervorgebracht hat. Der Säkularismus, der als „Modernisierung“ der Gesellschaft dargestellt wird, ist die Philosophie, die die faschistische und die postfaschistische Periode in Italien trotz ihrer politischen Gegnerschaft verbindet.

Nachdem das Risorgimento, die italienische Einigungsbewegung, mit der Verfassung des vereinigten Königreichs „Italien gemacht“ hatte, wurden die Minister für Bildung und Kultur mit der Aufgabe betraut, „die Italiener zu machen“. Der Liberale Francesco De Sanctis (1817–1883) und der Philosoph des Faschismus Giovanni Gentile (1875–1944) waren nach 1861 die großen „Erzieher“ der Italiener. Antonio Gramsci (1891–1937)3, der größte Theoretiker des Marxismus, war der dritte große „nationale Erzieher“, obwohl er nie institutionelle Ämter bekleidete und unter dem Faschismus im Gefängnis starb, aber mit seinen Vorgängern dieselbe hegelianische Philosophie teilte, deren Eckpfeiler der Immanentismus und der Historismus sind.

Aus diesem Grund war und ist der Antifaschismus nicht in der Lage, die historischen und kulturellen Wurzeln des Faschismus zu verstehen, und muß sich mit einer moralischen Verurteilung seiner Gegner begnügen, indem er sich darauf beschränkt, deren Gespenst immer wieder heraufzubeschwören, um seine eigenen Positionen zu verteidigen.

Diese kulturelle Sichtweise befindet sich heute in einer Krise, denn während der Faschismus aus dem historischen Gedächtnis der Italiener verschwunden ist, kehrt eine Rückbesinnung auf die traditionellen religiösen und kulturellen Grundsätze zurück, die sich in dem Dreiklang „Gott, Familie und Vaterland“ zusammenfassen lassen, den die junge Dirigentin und Pianistin Beatrice Venezi kürzlich in einem Fernsehinterview mutig wieder vorgeschlagen hat. In dieser Hinsicht ist Fontanas Nominierung für die progressistische Kultur sogar noch einschneidender als die von La Russa, denn während letzterer bestenfalls als Sammler nicht wiederholbarer historischer Erinnerungen betrachtet werden kann, ist ersterer der Träger einer Weltanschauung, die den immerwährenden und unveränderlichen Wert der katholischen Tradition bekräftigt.

Das bedeutet nicht, daß Italien seine Erbsünde losgeworden ist. Ein starkes Element der Diskontinuität für die neue Regierung wäre die Besetzung der Schlüsselministerien für Bildung, Universität und Forschung sowie Kultur mit Vertretern, die in der Lage sind, der säkularistischen kulturellen Hegemonie ein Ende zu setzen.

Die Nachricht, daß der Journalist und Historiker Giordano Bruno Guerri4 Kulturminister in der nächsten Mitte-rechts-Regierung werden könnte, ist dagegen ein Alarmsignal. 1950 in der Provinz Siena geboren, ist Guerri derzeit Vorsitzender der Fondazione Vittoriale degli Italiani, einem Gabriele-D’Annunzio-Tempel des kulturellen Kitsches. Berühmt wurde er 1982 mit einem Buch über die heilige Maria Goretti mit dem Titel „Povera santa, Povero assassino“ (die deutsche Ausgabe trägt den noch eindeutigeren Titel: „Zwei arme Schweine auf dem Weg zum Himmel“, 1999 erschienen im notorisch kirchenfeindlichen Ahriman-Verlag), in dem er versuchte, eine der schönsten Frauengestalten des 20. Jahrhunderts zu entmythologisieren. Sein anderes Buch, „Io ti assolvo“ („Ich spreche dich los. Ethik, Politik, Sex. Beichtväter vor alten und neuen Sünden“, 1993), richtet sich direkt gegen das Sakrament der Beichte, während das zuletzt erschienene Buch (der Nachdruck eines früheren Werkes) „Eretico o santo“ („Häretiker oder Heiliger. Ernesto Buonaiuti, der exkommunizierte Priester, der Papst Franziskus inspiriert“, 2022), ist die Apologetik eines abgefallenen und exkommunizierten modernistischen Priesters. Guerri wird von Zeit zu Zeit als Atheist, Liberaler, Libertärer und Libertiner bezeichnet. 2006 unterzeichnete er das Manifest der Liberalen Reformer, das sich für die Zulassung von Euthanasie, weichen Drogen, Prostitution und homosexuellen Partnerschaften aussprach. Der Gründer der Liberalen Reformer, der ehemalige Radikale Benedetto Dalla Vedova5, wurde am 25. September auf der gemeinsamen Mitte-links-Liste zum Abgeordneten gewählt, während Giordano Bruno Guerri für das Mitte-rechts-Bündnis als Kulturminister im Gespräch ist. Ein solcher Start wäre ein Widersinn mit katastrophalen Folgen.